NFM 10-12-2020
Steinzeitjäger mit Beute. Aquarell mit freundlicher Genehmigung von Benoît Clarys.

Nelly, das fast vollständig erhaltene Skelett einer Elefantendame

Vor 300 000 Jahren waren im niedersächsischen Schöningen Elefanten zu Hause.


An der altsteinzeitlichen Fundstelle Schöningen legten Forscher*innen erstmals ein nahezu vollständiges Skelett eines eurasischen Waldelefanten (Palaeoloxodon antiquus) frei. Das Tier starb am damaligen Seeufer – was genau geschah und wie die Umgebung damals beschaffen war, rekonstruiert ein Senckenberg-Team nun durch Analysen und weitere Grabungen.

Viele Menschen verbinden Archäologie und Paläontologie mit „buddeln“. Diese Tätigkeit macht tatsächlich einen wesentlichen Teil unserer Arbeit aus – und macht sie auch spannend. Denn man weiß nie, was einem im nächsten Quadratmeter erwartet. Sensationsfunde gibt es leider selten. Was ist so faszinierend an dieser Arbeit? Es ist die Freude am Forschen selbst, die Suche nach neuen Erkenntnissen – und die verlangt viel Zeit und noch mehr Geduld. Umso schöner ist es, wenn sich schließlich alles zusammenfügt. In der Grabungsstätte im Braunkohletagebau Schöningen war das 2017 wieder der Fall.

Ein Riesenknochen wird freigelegt

Am Montag, 4. September 2017, grub Neil Haycock in der Fundstelle Schöningen 13 II einen ungewöhnlich großen Knochen aus. Schnell stellte sich heraus, dass es sich dabei um den ersten Halswirbel – den Atlas – eines Elefanten handelte (Serangeli et al. 2020). Kurz danach wurden noch zwei riesige Backenzähne samt Unterkiefer und ein Zungenbein entdeckt. Bereits die schlichte Größe und das Gewicht der einzelnen Knochen waren beeindruckend. Aber was war das wohl für ein Elefant?

In Schöningen, Niedersachsen, wurden immer wieder Reste von Waldelefanten (Palaeoloxodon antiquus) ausgegraben, dokumentiert und, meistens im Rahmen von Rettungsgrabungen, vor dem herannahenden Schaufelradbagger für die Wissenschaft gesichert. Mal ein Stoßzahn, mal ein Langknochen, mal ein Wirbel.

Diese Tiere hatten eine maximale Schulterhöhe von über vier Metern und konnten ein Gewicht von über zehn Tonnen erreichen. Einzelne Bullen konnten jedoch auch deutlich größer und schwerer werden. Im Vergleich zu den heutigen Elefanten der afrikanischen Savanne waren sie etwas größer, sie hatten kleinere Ohren und einen kürzeren Schwanz. Ihr Fettpolster dagegen war erheblich dicker, da sie so weit im Norden den winterlichen Temperaturen trotzen mussten. Das war in der Tat überlebenswichtig!

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Spitze eines der beiden Stoßzähne. Das Elfenbein ist sehr gut erhalten.

Fettpolster überlebenswichtig

Die berühmte und historisch belegte Geschichte von Hannibal zeigt uns das. Der karthagische Feldherr startete im Jahr 218 v. Chr. von Spanien aus mit 37 Elefanten gegen die Römische Republik und überquerte mit einer unbestimmten Anzahl davon die Alpen. Die Tiere starben aber alle – mit Ausnahme eines einzigen Elefanten – im strengen Winter 218/17 v.Chr. in Norditalien. In Norddeutschland dauern die Winter deutlich länger und sie sind in der Regel auch strenger als in Norditalien.

In Mitteleuropa lebende Waldelefanten dürften zudem eine bräunliche bis graue Färbung besessen haben, so wie es beispielsweise auch heute noch bei Pferden, Rindern oder Hirschen der Fall ist.

Bis jetzt wurden in mehreren Fundstellen in Schöningen Reste von mindestens zehn Waldelefanten gefunden. Die Entdeckung weiterer Einzelknochen von Elefanten ist für die Forschung zunächst einmal keine Sensation; die ersten Funde vom September 2017 legten aber die Vermutung nahe, dass hier vielleicht ein vollständiges Skelett, vielleicht sogar mit Stoßzähnen, zu erwarten sei.

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Mit viel Erfahrung, Geduld und Vorsicht. Ausgräber Martin Kursch legt die Fußknochen des Waldelefanten vom Sediment frei.

Dieses Mal ein fast vollständiges Skelett!

Und in der Tat war das Skelett fast komplett und sehr gut erhalten (s. Abb. oben). Besonders beeindruckend: die beiden weitgehend geraden Stoßzähne. Der Schädel ist dagegen in Hunderte kleine Stücke zerbrochen. Noch fehlen das vordere linke Bein mitsamt Schulterblatt, der linke Unterschenkel, fast sämtliche Fußknochen von zwei weiteren Beinen sowie einige Schwanzwirbel.

Die Lage der Knochen im Sediment zeigt, dass das Skelett mehr oder weniger parallel zum Seeufer mit dem Kopf in nördlicher und dem Hinterteil in südlicher Richtung eingebettet worden ist. Unterkiefer, Stoßzähne, Zungenbeine, Wirbelsäule und die vorhandenen Beine lagen weitgehend in einer anatomisch korrekten Anordnung. Bissspuren zeigen uns, dass – obwohl das Tier im Wasser verendet ist – es über eine gewisse Zeitspanne hinweg für Raubtiere und Menschen oberhalb des Wasserspiegels frei zugänglich gewesen sein muss.
Die Knochen des Elefanten erzählen eine eigene Geschichte: Nach den ersten Untersuchungen handelt es sich um ein etwa 50 Jahre altes, wahrscheinlich weibliches Tier mit stark abgenutzten Zähnen. Ein Indiz dafür, dass es eine Elefantenkuh war, ist die Länge der Stoßzähne von „nur“ 2,3 Metern. Das Tier hatte eine Schulterhöhe von circa 3,2 Metern und wog etwa 6,8 Tonnen – es war somit größer als heutige afrikanische Elefantenkühe.

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3D-Modell zur Lage der Knochen, das der Archäozoologe Ivo Verheijen mithilfe des Programms „Agisoft Photoscan“ aus über 700 Grabungsfotos rekonstruiert hat.

Steinzeitmenschen nutzten den Kadaver

Wir gaben dem Tier den Spitznamen Nelly, in Anlehnung an Neil, der das erste Stück entdeckt hatte. Schöningen wäre aber nicht Schöningen, wenn es nicht noch eine Steigerung parat hätte. Drei Knochenartefakte und über 30 Steinartefakte beweisen, dass der Mensch zur gleichen Zeit vor Ort – und zwar in unmittelbarer Nähe zum Kadaver – gewesen sein muss. Was ist also mit Nelly passiert? 50 Jahre sind für einen Elefanten ein stattliches Alter. Es ist daher wahrscheinlich, dass dieses Tier an Altersschwäche gestorben ist. Danach war es sicher noch über Monate hinweg für Menschen und Tiere interessant. Vielleicht schnitten die Steinzeitjäger in den ersten Tagen noch Fleisch, Sehnen und Fett aus dem Kadaver. Am Ende war wohl nur noch die Haut des Riesen interessant.

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Skelett des Waldelefanten „Nelly“. Vollständig oder fast vollständig erhalten gebliebene Knochen sind dunkelgrün, fragmentiert vorgefundene Knochen hellgrün und fehlende weiß dargestellt.

Steinzeit-Schatzgrube Schöningen

Die archäologischen Ausgrabungen im Tagebau Schöningen begannen in den 1980er Jahren. Anzahl und Qualität der rund 300 000 Jahre alten Funde sind einzigartig (Bigga 2018; Conard et al. 2015). Hier finden sich die Überreste von Pflanzen (z. B. Holz, Samen, Wurzeln und Blätter), Knochen von Groß- und Kleinsäugern, Reptilien, Amphibien, Vögeln, Fischen, Muscheln, Insekten und mikroskopisch kleinen Organismen wie Krebsen und Kieselalgen. Im Pleistozän lebten hier zahlreiche Großsäuger: neben Elefanten verschiedene Arten von Nashörnern (Wald- und Steppennashorn), Rindern (Bison, Auerochse, Wasserbüffel), Pferden (Wildpferd, Wildesel), Hirsche (Riesenhirsch, Rothirsch, Reh), Bären (Höhlenbär, Kragenbär), gab es Wildschweine, Löwen, Säbelzahnkatzen und Wölfe (Serangeli et al. 2018).

All diese Daten dienen den Paläoumweltforscher*innen als Proxies zur Rekonstruktion der Landschafts- und Klimaentwicklung im Mitteleuropa von damals. Darüber hinaus helfen uns die Funde in Schöningen, die heutigen Verhältnisse und Trends besser zu verstehen.

Es ist die Zeit, als der Mensch nomadisch vom Sammeln und Jagen/Fischen lebte. Als Umweltfaktor spielte er wahrhaft (noch) keine große Rolle, aber er war dabei, sich auszubreiten, das Feuer zu beherrschen, Waffen und Werkzeuge zu entwickeln. In Schöningen findet man viele seiner Hinterlassenschaften aus Feuerstein, Knochen und Holz.

Die absolute Weltsensation sind die hölzernen Schöninger Speere, die ältesten, zum Teil vollständig erhaltenen Speere der Welt (Conard & Wenzel 2017) und jetzt ein neuer Wurfstock (s. Beitrag auf Seite 182). Sie bescheinigen Homo heidelbergensis nicht nur die Fähigkeit, sich gegenüber Raubtieren zu verteidigen, sondern auch, dass er ein geschickter, aktiver Jäger war (Conard et al. 2015).

Schöningen liefert die Daten aus einer sich verändernden Umwelt mit reicher Biodiversität, an die sich Homo heidelbergensis über einen Zeitraum von Jahrtausenden angepasst hat. Die Fundstelle bietet Einblick in die Entwicklung der Kapazitäten und Mechanismen von Ressourcennutzung sowie Siedlungsdynamik und dient als Referenz für eine vom Menschen unberührte natürliche Umwelt – und führt uns die Veränderungen während des Anthropozäns deutlich vor Augen.

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Fundstelle Schöningen 13 II mit Blick auf die Verlandungsfolgen 1, 2, 3 und die Kalkmudden der Verlandungsfolge 4. Zu jeder Folge gehören graue, meist muschelreiche Kalkmudden des Seebeckens und darüber Torf bzw. Seeschlamm im Uferbereich.

Literatur

Bigga, G. (2018): Die Pflanzen von Schöningen. Forschungen zur Urgeschichte im Tagebau von Schöningen 3 (Mainz 2017). https://denkmalpflege.niedersachsen.de/ startseite/aktuelles/online_publikationen/die­pflanzen­von­schoeningen­165384.html

Conard, N., Miller, C., Serangeli, J. & van Kolfschoten, T. (Hrsg.) (2015): Excavations at Schöningen and new insights into Middle Pleistocene adaptations in northern Europe. – Journal of Human Evolution 89.

Conard, N. & Wenzel, T. (2017): Von Speeren, Wildpferden und Steinartefakten. – Senckenberg – Natur, Forschung, Museum 147 (3/4): 96–97

Serangeli, J., Verheijen, I., Rodríguez Álvarez, B., Altamura,F.,Lehmann,J.,Conard,N.J.(2020): ElefanteninSchöningen.ArchäologieinDeutschland2020/3,8–13.

Serangeli ,J.,Rodríguez­Álvarez,B.,Tucci,M.,Verheijen, I., Bigga, G., Böhner, U., Urban, B., van Kolfschoten, T., Conard, N.J. (2018): The Project Schöningen from an ecological and cultural perspective. In: Cole, J. (Hrsg.), Coping with climate: the legacy of Homo heidelbergensis. – S.I. of Quaternary Science Review 198, 140–155

Terberger, T., Böhner, U., Hillgruber, F. & Kotula, A. (Hrsg.) (2018): 300000 Jahre Spitzentechnik. Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die frühesten Speere der Menschheit. Theiss, WBG Darmstadt.

Die Autoren

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Dr. Jordi Serangeli hat an der Eberhard-­Karls­Universität Tübingen zu Älterer Urgeschichte und Quartärökologie promoviert und leitet seit 2008 die Grabungen an der Fundstelle Schöningen. Der Archäologe koordiniert außerdem die Arbeiten des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment in Schöningen.
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Ivo Verheijen ist Archäozoologe und studierte an der Leiden University in den Niederlanden. Er promoviert derzeit an der Eberhard-­Karls­-Universität Tübingen in Älterer Urgeschichte und Quartärökologie über die Fundstelle Schöningen und ist dort als Forscher aktiv.
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Prof. Nicholas J. Conard ist als Professor für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie an der Universität Tübingen tätig. Darüber hinaus leitet er das Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment sowie das Forschungsprojekt Schöningen.